«Weil wir die Wahrnehmung verändern können, sind wir Kulturwesen»

PROZ, September 2024, S. 28/29

Sabine Knosala

Das Philosophicum widmet sich im Herbst mit einer Ausstellung und einem Veranstaltungsreigen der Ethik der Wahrnehmung. Die PROZ wollte von Stefan Brotbeck, Initiator des Philosophicums, wissen, was die Wahrnehmung mit uns macht, wo Fallstricke liegen und wie wir sie umgehen können. 

PROZ: Wir nehmen wahr – jeden Tag und ganz automatisch. Warum sollte man das hinterfragen?

Stefan Brotbeck: Wir sind, wie andere Lebewesen auch, durchaus in der Lage, unsere Umwelt und teilweise auch unseren Zustand wahrzunehmen. Das, was die menschliche Lebensform ausmacht, ist die Fähigkeit, unsere Wahrnehmungsfähigkeit zu reflektieren, zu hinterfragen, zu korrigieren und zu erweitern.  Wir haben also die Fähigkeit, den Blick zu lenken auf das, worauf wir unseren Blick lenken – eine Art Wahrnehmungsfähigkeit für unsere Wahrnehmung. 

Warum braucht es eine Ethik davon?

Weil ich glaube, dass wir Verantwortung tragen, für das, worauf wir unsere Wahrnehmung lenken. Es ist ja interessant, dass wir manchmal sagen: Ich habe dich nicht wahrgenommen und meinen eigentlich, dass ich einem Anspruch des Gegenübers nicht gerecht geworden bin. Ethik der Wahrnehmung meint also unsere Verantwortung in Bezug auf unsere Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer Ideen. Als moralische Wesen tragen wir Verantwortung, dass wir wahrnehmen, was wir wahrnehmen. 

Ist die Art, wie wir wahrnehmen, denn geprägt durch unseren Charakter oder unsere Umwelt?

Auf jeden Fall durch beides, aber die Prägungen ihrerseits sind nicht erschöpfend. Ich kann nämlich ganz unterschiedlich damit umgehen. Das heisst, die alte Frage nach «nature and nurture» oder «Natur und Kultur» oder «Biologie und Erziehung» ist zweifelsfrei da: Wir sind geprägte Lebewesen, aber vor allem, und das macht uns zu menschlichen Lebewesen, können wir diese Prägungen kritisch befragen, gewichten, in den Hintergrund treten lassen und zum Teil sogar umprägen oder neu prägen. 

Und wir können auch selber prägen. Das wäre dann noch das Dritte …

Genau und diese drei Varianten machen den Menschen zu einer Person, zu einem freiheitsfähigen Wesen. Ich kann mich zum Beispiel zu etwas, das mich an mir nervt, auf eine spezifische Weise verhalten. Ich bin nicht einfach wie ein Gegenstand die Summe meiner Eigenschaften, sondern ich bin viel mehr als das. Und genau dieses «Mehr als» macht uns zu Personen.

Wenn man etwas in ein Verhältnis setzt, denkt man schnell einmal in Kategorien und ordnet ein. Ist das ein Hilfsmittel oder ein Fallstrick?

Ich glaube, das ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr. Das rasche Einsortieren machen wir ständig, und es kann uns im Alltag durchaus helfen. Wenn ich zum Beispiel davon ausgehe, dass ein Auto vor einem Fussgängerstreifen anhält, ist das ein Vorurteil, bevor etwas stattgefunden hat. 

Ein Vorurteil nicht, sondern eher eine Erwartungshaltung, oder nicht?

Stimmt, eher eine Erwartungshaltung im Sinne eines Vor-Urteils, bevor ich die Situation aufgrund meiner Wahrnehmung beurteilen kann.

Ich glaube auch, dass Begriffe ganz entscheidend sind, wir brauchen sie. Je mehr Begriffe ich bilde, umso filigraner ist mein Blick in die Welt. Wenn ich zum Beispiel nur über den Begriff Tisch verfüge, ist ein Stuhl für mich ein merkwürdiger Tisch. Aber: In dem Moment, in dem ich die Begriffe nicht mehr prüfe an der Welt und an der Wahrnehmung, wird es gefährlich.

Inwiefern?

Wir sind unglaublich anfällig dafür, dass wir aufgrund eines Merkmals Menschen gleich in Schubladen stecken. Da sind wir ziemlich einfältig unterwegs. Auch das ist Ethik der Wahrnehmung, dass wir bei einer Begegnung die innere Beweglichkeit entwickeln, um das zu hinterfragen, immer wieder neu hinzuschauen und die Begriffsbildung an der Wahrnehmung zu schulen.

Das heisst, die Art wie wir wahrnehmen, hat auch einen Einfluss auf andere – insbesondere, wenn man in Kategorien denkt?

Ja, das ist auch wieder das ethische Moment. Es ist für andere höchst relevant, wie mein Blick auf Menschen ist. Weil sie es früher oder später zu spüren bekommen. Ein einfältiger Blick hat immer Auswirkungen auf andere, allerdings auch auf mich selbst.

Was macht die Wahrnehmung mit uns?

Sie verändert uns und weil wir die Wahrnehmung ihrerseits verändern können, sind wir Kulturwesen. Ich glaube, dass Kultur eine Wahrnehmungsform zur Generierung von neuen Wahrnehmungen ist. Es geht immer um den Selbstveränderungsprozess, der auch ein Weltveränderungsprozess ist. 

Wir haben jetzt darüber geredet, dass die Wahrnehmung einen Einfluss auf andere Menschen oder einen selbst hat. Wenn man in Kategorien denkt, kann das aber auch einen Sachverhalt betreffen. Was hat Schubladendenken dort für Konsequenzen?

Bei Lebensfragen, aber auch gesellschaftlichen und politischen Fragen gibt es zwei Gebärden der Aufmerksamkeit, die verheerend sein können: das Polarisieren und das Banalisieren.

Warum ist das gefährlich? 

Weil es entweder zum Krieg führt, das heisst zu unproduktiven Auseinandersetzungen, zu Verhärtungen, Eskalationen und letztlich zur wechselseitigen Vernichtung oder aber zum Scheinfrieden, das heisst, zu einer friedhöflichen Ruhe, wo alles quasi in Ordnung ist.

Ist es nicht auch so, dass das Problem gar nicht gelöst ist, wenn man etwas banalisiert?

Das Problem ist sowieso nicht gelöst – auch beim Polarisieren nicht, weil das Polarisieren eine falsche Antwort auf ein tatsächliches Problem ist. Leute die polarisieren, sehen ja zu Recht etwas, was nicht gut ist, aber die Reaktion darauf ist genauso schlecht, wie das, was sie kritisieren. Beim Polarisieren hetze ich gegen die Hetzer, ich rede auf populistische Weise über den Populismus, ich reagiere aggressiv auf die Aggression. 

Der Banalisierer sagt dagegen: Es ist doch alles gar nicht so schlimm, wir haben doch gar kein Problem, es wird sich schon geben. Tatsächlich sind beide Formen unangemessen.

Und wie kommt man aus dem heraus?

Es gibt keinen Trick, mit dem man das lösen kann. Das braucht eine individuelle Auseinandersetzung, eine lebendige Streit- respektive Friedenskultur.

Zum Beispiel?

Beim Entpolarisieren lautet ein Motto: Gemeinsame Fehler sind Anstoss für gemeinsame Aufgaben. Wenn zwei Positionen einander gegenüberstehen, könnte man zum Beispiel sagen: Lass uns zugeben, dass wir beide einseitig sind. Wenn ich mit jemandem einen Fehler teile, dann teile ich etwas mit dieser Person. Aufgrund dessen können wir vielleicht einen Schritt machen, der darüber hinausgeht. 

Wie kann der Denkraum zum Entpolarisieren respektive Ent­banalisieren beitragen?

Der Denkraum steht und fällt mit der Bereitschaft zur Selbstreflexion. Eine stille Botschaft ist, dass wir in vielen Fragen nicht weiterkommen, wenn wir ständig in der Fremdbeurteilung unterwegs sind und bei der Selbstreflexion schnell ermüden. Das Publikum wird eingeladen, selbstkritisch auf seine Neigung zu einfachen Antworten zu blicken.

Was ist das Ziel der Ausstellung? Was wollen Sie, in einem Satz zusammengefasst, bei jemandem erreicht haben, der oder die den Denkraum besucht hat?

Es gibt noch unglaublich viel zu tun … 

(Lacht) Das soll der Gedanke sein?

Ja, der Gedanke soll sein: Es gibt unglaublich viel zu tun, denn ich muss geistesgegenwärtiger werden. 

 

Schwerpunkt «Ethik der Wahrnehmung»

Verstehen wir, weshalb wir die Dinge so sehen, wie wir sie sehen? Was sind die Voraussetzungen und die Konsequenzen unserer Sichtweise? Könnten oder sollten wir die Dinge vielleicht sogar anders sehen lernen? Mit diesen Fragen setzt sich im Herbst der Philosophicum-Schwerpunkt «Ethik der Wahrnehmung» auseinander. Er besteht aus einem begehbaren Denkraum, der zum Fragen, Hinterfragen, Innehalten und Erkunden einlädt. Begleitend dazu finden Führungen, Workshops und öffentliche Gespräche statt. In Kooperation mit der PROZ setzen sich Philosophicum-Mitarbeitende bereits seit März in einer monatlichen Kolumne mit der «Ethik der Wahrnehmung» auseinander. Im Oktober wird zudem ein gemeinsamer Workshop von PROZ und Philosophicum stattfinden, in dem die Rolle der Wahrnehmung in den und durch die Medien diskutiert wird. 

Schwerpunkt «Ethik der Wahrnehmung»: Sa 21.9. bis So 17.11., Philosophicum, St. Johanns-Vorstadt 19–21, Basel, www.philosophicum.ch

 

 

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